Das Kornfeld lag ruhig am Stadtrand, wohin sich selten Menschen verirren. Die Dämmerung setzte ein, die Schatten am Horizont erwiesen sich als Wälder, und man erahnte die Sonne bald aufgehen. Eine leichte Brise ließ die Ähren tanzen und da lagen sie nun. Sally und ein Fremder. Sie schlief fest, sah friedlich aus und glücklich, hatte ganz zerzaustes Haar und ihre Schminke war bis zur Unkenntlichkeit verlaufen. Der Fremde war nackt und mit Knutschflecken sowie der Schminke übersät. Den Weizen kräftig platt getreten hatten sie sich also ihr Nachtlager hier aufgebaut und an Hand der Kondome konnte man sich ausmalen, was die Nacht über passierte. Überhaupt glich die Spielwiese der beiden mehr einem Schlachtfeld, denn Sally´s Kleidung war stark zerrissen und einzelne Fetzen lagen herum, auch der Inhalt ihrer Tasche lag ausgebreitet neben ihr.
Die Sonne kam nun schon halb über dem Wald hervor und die Vögel zwitscherten wie verrückt, da öffneten sich Sally´s Augen halb und sie begann aufzuwachen. Sie fühlte sich aufgeweicht, angestrengt und verwirrt. Der Rücken tat ihr weh und sie verzog ihre Mundwinkel stark. Er schläft, dachte sie, und wo zum Teufel sind wir. Es stinkt nach Kuhscheiße hier, fürchterlich, und ihre nun mittlerweile weit aufgerissenen Augen erkannten auch das Kornfeld, in dem sie sich befanden. Er ist so schön, dachte sie ihn die ganze Zeit anschauend. Wer ist dieser schöne Mann? Fragte sie sich, fand aber keine Antwort. Mein Hirn ist Matsch, konstatierte sie, wandte sich von seinem Gesicht ab und versuchte aufzustehen. Sie blickte direkt in die Sonne und drehte sich um 180 grad und sah ein umzäuntes Fabrikgebäude und Einfamilienhäuser. Dies ist aber ein schöner Ort, dachte sie sich, atmete tief ein, erinnerte sich an die Kuhscheiße, erschrak sich darüber und beschloss die Szenerie zu verlassen. Sie wollte schnell nach Hause, zurück ins schöne Stübchen.
Ohne sich um ihr Aussehen zu kümmern, machte sie erste zaghafte und ungelenke Schritte, gelangte auf einen Weg und begann sich selbst zu finden. Keinen Kater, dachte sie sich, aber Durst hab ich. So gern würde ich jetzt einen Kaffee trinken. Also stapfte sie in Richtung Stadt und wunderte sich zunehmend wo sie eigentlich gelandet war. Der Fernsehturm ist nicht am Horizont und auch sonst wirkt es eher, wie auf dem Land. Sie begegnete niemanden, den sie hätte fragen können und plötzlich, wie vom Hammer getroffen, blieb sie stehen und wurde sehr nervös. Erschreckend, dass ich in Moltenhagen bin, murmelte sie vor sich hin und grübelte, wer dieser Mann sei und wie um alles in der Welt, sie hier her gekommen sind. War ich nicht gestern Abend noch im H20Club in der Dirksenstrasse? Wahrscheinlich, allerhöchster Wahrscheinlichkeit nach, war ich sehr betrunken, und da kommt es schon vor, das ich sonstwo aufwache, aber hier? Huh, lief es ihr kalt den Rücken runter und sie wurde zunehmend verspannter. Sofort schaute sie sich an, wurstelte in Ihren Haaren und starb jetzt schon innerlich vor Nervosität.
Es klingelte und vibrierte an ihrem Körper und verschreckt nahm sie das Gespräch an. Lulu, ihr Freund, war am Apparat und fragte aufgeregt, ob es Rally gut ginge und wo sie sei. Sie konzentrierte sich und antwortete im scharfen Ton, das sie einen Elternbesuch macht und dem entsprechend ginge es ihr auch. Anklagend fragte sie gleich noch, ob er sie schon wieder anfange zu kontrollieren und wer zum Teufel eigentlich Rally sei.Das Gespräch war von Lulu aber schon beendet worden.
Wie in einem Traum fühlte sie sich, sie spürte keinen Boden mehr unter ihren Füßen und der Sonnenschein ließ alles im warmen, leicht rötlichen Licht erscheinen, noch immer traf sie keinen Menschen, befand das aber als gut so und steuerte auf den Schlossgarten zu. Innerlich baute sich ein unbändiges Verlangen nach Kaffee und Zigaretten auf, ihre Nervosität schien ins Unermessliche zu wachsen. Um die Ecke leichten Schrittes biegend erblickte sie Anja auf der Parkbank gleich am Eingang des Schlossgartens. Voller Freude und Erleichterung ein bekanntes Gesicht zu sehen, lief sie auf die Bank zu. Anja war abwesend und träumte zu ihrer Musik in den Tag hinein. Als plötzlich Leopold vor ihr stand, erschrak sie sich so sehr, dass sie einen lauten Schrei ausstieß. „Wie siehst du denn aus? Was machst du hier? Wurdest du zusammen geschlagen? Wer war das?“ Diese vielen Fragen übermannten Sally derart, dass sie sich erstmal hinsetzen musste. „Ich weiß es nicht.“ murmelte sie in Richtung Anja und versuchte sich wieder zu konzentrieren. „Hast du ne Zigarette für mich und wo bekommen wir einen Kaffee her?“ Das war alles, was sie laut sagen konnte und irgendwie schämte sie sich sehr stark für diesen Überfall und sie konnte auch nicht so recht fragen, wie es Anja eigentlich geht und warum sie so abwesend um diese Zeit im Garten saß. Anja rückte eine Zigarette raus und schlug vor, zu sich zu gehen und dort Kaffee zu trinken, die Eltern sind eh arbeiten und Leo könnte sich auch duschen und etwas neues anziehen. Sally torkelte nun wieder und Anja hatte das Gefühl, einen Hund gefunden zu haben, dem sehr übel mitgespielt wurde. Schweigend liefen sie durch die Stadt, die langsam erwachte. Autos fuhren vorbei und hupten, die ersten Fußgänger begrüßten Anja und warfen Sally argwöhnische Blicke zu. Sowas hat es hier noch nicht gegeben, konnte man direkt in den Augen ablesen. Beide ignorierten das so gut sie konnten und liefen immer weiter.
Nach der Dusche fühlte sich Sally wie ein neugeborener Mensch, merkte aber auch, dass sie eine durchzechte Nacht hinter sich hatte, denn nicht nur ihr Rücken, auch der Arsch tat ihr weh und der Kopf mittlerweile auch. Der Kaffee wird schon alles richten, sagte sie zu sich und roch schon das frisch aufgebrühte Aroma. Meister Röstung. Anja saß mit fragenden Blicken gegenüber am Küchentisch und traute sich dann auch als Erste etwas zu sagen. „Was machst du um diese Uhrzeit und in dem Aufzug hier?“ „Ich weiß es nicht, ehrlich, ich bin auf dem Kornfeld beim Kuhweg aufgewacht, neben einem nackten wunderschönen Mann und bin dann losgelaufen und hab dich getroffen. Gestern Abend war ich noch in Berlin und hab mich für ne Party so richtig aufgebrezelt, zu der ich auch allein gegangen bin, aber wie ich hier in Moltenhagen gelandet bin, keine Ahnung. Und was machst du so früh im Schlossgarten?“ umriss sie kurz die Geschichte. „Mein Vater ist vor 3 Wochen gestorben und ich vermisse ihn sehr. Im Schlossgarten ist er früher mit mir zum Rummel gegangen und ich wollte mich diesen Erinnerungen stellen.“ schluchzte sie und fing an zu weinen. Sally fühlte sich wieder vollends übermannt und wusste nicht recht, was sie darauf antworten solle, stattdessen redete sie über sich. „Seit mehr als 3 Jahren bin ich jetzt DragQueen und du weißt nicht, wieviel Spaß das mit sich bringt.“ begann ich zu erzählen. „Kostenloser Eintritt in die schönsten Clubs, Freigetränke und Drogen umsonst, aber das Beste sind die Typen, selbst die Heteros laufen mir hinterher. Dein Kaffee ist vorzüglich.“ Anja reagierte nicht darauf und schlürfte ihren Kaffee leer.
„Ich hole dir dann mal ein paar Sachen.“ sagte sie und verschwand. Sally grollte innerlich vor schlechtem Gewissen und wollte weg. Anja hatte doch ihren Vater zuletzt gehasst und jetzt trauert sie ihm hinterher, so krass emotional, was soll sie darauf denn auch sagen? Die Gedanken sprudelten nur so in ihrem Kopf und sie fühlte sich fehl am Platze, so beschloss sie kurzer Hand zu verschwinden und flüchtete aus der Haustüre. Ich rufe sie später an, rechtfertigte sie noch schnell ihr Verhalten in Gedanken und versuchte sich zu konzentrieren, denn nun musste ein Plan her. Wie komme ich hier weg? Laufe ich womöglich noch Papa über den Weg? Ein Taxi kann ich mir schließlich nicht leisten und der Bahnhof liegt direkt auf dem Weg zu ihm nach Haus. Wo sind überhaupt meine Sachen?
Vielleicht sollte ich nochmal zurück zum Kornfeld, da ist aber noch dieser wunderschöne Mann, dem kann ich so nicht unter die Augen treten. Ich versuche den Schaffner im Zug einfach zu überreden, dass er mich mitnimmt. Das wird schon. Ich muss nur schnell die Schultetusstrasse zum Bahnhof hochlaufen und hoffentlich sieht mich Papa nicht. Sehr in eigenen Gedanken versunken und auf der anderen Strassenseite laufend, ignorierte Sally ihre Umwelt und so sah sie auch nicht ihren Vater aus der Haustüre kommend und sie erblickend davor stehenbleiben.
Sofort fängt er an sich aufzuregen. Sein Sohn läuft in diesem Outfit durch die Stadt, einen Wollkragenpullover mit einer Frauenjeans und Stöckelschuhen, das kann doch nicht wahr sein. Er redet sich so richtig in Rage, obwohl niemand da ist, der ihm zuhört und Sally ist immer noch so gedankenverloren, dass sie ihn nicht bemerkt. Der Vater ist schon außer sich vor Wut, kann aber schon keinen Ton mehr sagen, denn sein Sohn läuft wirklich ohne Notiz von ihm zu nehmen auf der anderen Seite der Straße vorbei. In Gedanken schreit er ihn an und wirft ihm vor, dass er jahrelang Unterhalt gezahlt hat und für was eigentlich, dafür dass er ignoriert wird und überhaupt was macht Leo hier und warum besucht er mich nicht? Die Wut langsam unter Kontrolle bringend denkt er sich, Braucht er denn kein Geld? Er wird sicher wieder nur eine Sms schreiben und ich werde wieder eine Überweisung machen. Resignierend wendete er sich ab und meckerte noch vor sich hin. Er schrie noch einen Fahrradfahrer an, der ihn streifte und so verpassten beide ihre Gelegenheit eines Treffens.
Ohne sich umzudrehen dachte Sally, ich habe es fast geschafft ohne Vater über den Weg zu laufen. Nach dem Treffen mit Anja könnte ich ihn nicht ertragen. Er hätte bestimmt wieder angefangen mit dem Thema Unterhalt und was ich mir vorstellen könne zu Arbeiten. Irgendwie muss man ja seinen Lebensstil bezahlen und blablabla.
Den Bahnhof schon im Blick merkte Sally alle ihre Knochen und freute sich bald sitzen zu können. Mein Outfit ist schon cool, dachte sie so bei sich und las auf dem Fahrplan, das der nächste Zug erst in einer Stunde fahren wird. Scheiße, was mache ich hier in der Einöde eine ganze Stunde lang, regte sie sich schon innerlich auf, als ihr jemand von hinten auf die Schulter tippte. Erschrocken drehte sie sich um und erblickte den Mann vom Kornfeld mit ihrer Tasche in der Hand.
„Die hast du liegen gelassen und ich dachte mir schon, dich hier zu finden. Hast du genug Geld für die Heimfahrt?“
Sally hatte einen Frosch im Hals und brachte kein Wort heraus. Die Nervosität war wieder in vollem Umfang da und sie wollte am liebsten im Boden versinken. Zitternd fragte sie sich, wie ist sein Name und wo haben wir uns getroffen? Bin ich Schuld an den vielen Knutschflecken an seinem Hals? Er küsste sie auf den Mund und ein warmes Gefühl stieg in ihr auf und sie dachte nur, bitte nicht aufhören und keine lästigen Fragen mehr. „Ich komm dich in Berlin besuchen.“ sagte er mit einem schelmenhaften Lächeln und ließ sie einfach stehen. Total verwirrt von der ganzen Situation setzte sie sich und fing wieder an zu grübeln. Wer verdammt ist er überhaupt? Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Im H20Club kann ich mich nur noch an Frieda erinnern und wie wir beide voll auf dem Höhepunkt der Pille am DJPult standen, ab da hab ich nen Filmriss. Lulu ist nicht mitgekommen, oder? Sally fror ein wenig und spürte den Abkacker auf sie zukommen, sofort rannte sie um die Ecke des Bahnhofshauses und erbrach sich. Kopfweh setzte ein und der Zug kommt erst in einer halben Stunde...
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Monday, November 24, 2008
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